Leseprobe: Roman

Der Gesang des Eisvogels

Textauszug aus Kapitel 8


"Als ich die Haustür öffnete, schlug mir dröhnende Stille entgegen. Nur das leise Klacken von Trickets Krallen auf den hellen Holzbohlen durchbrach die völlige Geräuschlosigkeit. Während sie unbekümmert begann, das Haus zu durchstöbern, hielt ich in dem kleinen Flur zögernd inne.

 

Der Eingangsbereich des Hauses war winzig. Kaum zwei Meter vor mir schlängelte sich eine schmale Holztreppe nach oben, ins nächste Stockwerk, darunter befand sich eine Tür, hinter der sich vermutlich eine Abstellkammer verbarg. Rechts von mir drang aus einer kleinen, einfach eingerichteten Wohnküche mit einem ältlichen Gasherd Licht in die schmale Diele, links erstreckte sich ein hell durchflutetes Wohnzimmer, spärlich eingerichtet mit einem gemütlichen Sessel vor einem gemauerten Kamin und ein paar Bücherregalen an den Wänden.

 

Regungslos verharrte ich eine Weile an Ort und Stelle, um die Atmosphäre des Hauses in mich aufzunehmen. Es roch nach Holz und ein klein wenig abgestanden - vermutlich hatte hier seit Wochen niemand mehr ordentlich gelüftet. Im Sonnenlicht tanzten winzige Staubpartikel durch die Luft. Ich wusste nicht, ob Mom hier oder im Krankenhaus gestorben war, doch wahrscheinlich war es ein Weilchen her, dass die Räume richtig genutzt worden waren. - Wann mochte sie zuletzt ein Buch aus dem Regal neben dem Kamin genommen haben, um in dem riesigen Ohrensessel zu schmökern? Wann das letzte Mal eines der Gewürze aus dem kleinen Regal über dem Herd verwendet haben, während es auf den Gasflammen anheimelnd köchelte? Ich versuchte mir auszumalen, wie sie, tagein, tagaus, die ausgetretenen Holzdielen der Treppe hinauf in den ersten Stock gegangen sein mochte. Ob sie leichtfüßig hinaufgelaufen war oder eher langsam, jeder Schritt eine Anstrengung für den von Krankheit gezeichneten Körper?

 

Es fiel mir schwer mir vorzustellen, dass sie hier - zumindest bis vor nicht allzu langer Zeit - jeden ihrer Tage zugebracht hatte. Doch als ich mich aus der Diele löste und zaghaft erste Schritte durch die beiden Räume im Erdgeschoss unternahm, erkannte ich in immer mehr Details die Handschrift jener Frau, die mir vor vielen Jahren eine Mutter gewesen war. Schon in meiner Kindheit hatte Mom den Duft des Lavendels geliebt, der auch jetzt in einem getrockneten Strauß vor dem Küchenfenster herabhing. Auch an ihre Miniatur-Aquarelle, die die Wände beider Räume zierten, erinnerte ich mich jetzt wieder. Und daran, dass Dad die Bilder, die sie bei uns in Texas zurückgelassen hatte, zwei Jahre nach ihrem Verschwinden allesamt in einem Karton auf dem Dachboden verstaut hatte, ebenso wie Moms Kleider und alles andere, das uns von ihr geblieben war.

 

Mit den Händen fuhr ich über das weiche Holz des quadratischen Küchentischs, die Lehnen der beiden Stühle, die Anrichte. Hier hatte sie gegessen, gesessen, gelebt. Wie oft mochte sie dabei an Texas gedacht haben, an Dad und mich, das Leben, das sie hinter sich gelassen hatte? Langsam stieg ich die steilen Stufen zum ersten Stock hinauf, deren Holz unter jedem meiner Schritte knarzende Geräusche von sich gab. Das Haus musste alt sein, mehrere hundert Jahre wahrscheinlich, schien insgesamt aber noch gut in Schuss. Hatte Mom hier völlig allein gelebt?"